Heimkino-Tipp: „Sundown“ (2021)

Geheimnisse in Acapulco

Zusammen mit seiner Schwester Alice (Charlotte Gainsbourg) und ihren beiden Teenagerkindern verbringt der schweigsame Neil Bennett (Tim Roth) seinen Urlaub im mexikanischen Acapulco. Abgeschottet vom Lärm und den Gefahren der Stadt, lassen sie sich in ihrem Ferienhaus die Drinks bis an die Sonnenliege bringen, genießen laue Sommerabende im Restaurant mit Livemusik oder beklatschen die waghalsigen Klippenspringer an der Pazifikküste. Das Leben ist schön. Bis ein unerwarteter Anruf aus der britischen Heimat die Idylle jäh beendet: Mama Bennett ist verstorben, eine sofortige Rückreise unumgänglich. Zumindest für Alice und ihre Kids. Neil hingegen „vergisst“ seinen Reisepass im Resort und kann daher den Heimflug (noch) nicht antreten. Er komme mit dem nächsten Flieger nach.

Doch in Wahrheit hat er andere Pläne: Statt sich im Konsulat um Ersatzpapiere zu kümmern, mietet er sich in einem billigen Hotel ein, verdattelt die Tage am Strand und bandelt mit einer jungen Einheimischen (Iazua Larios) an. Alice’ Anrufe wimmelt er ab oder ignoriert er derweil. Überhaupt scheint ihm das Drumherum kaum mehr zu interessieren. Bis Alice unerwartet wieder zurückkommt, um ihren Bruder zur Rede zu stellen.

Erst vor wenigen Monaten besprach ich an dieser Stelle Regisseur Michel Francos Vorgängerfilm „New Order“. Starker Tobak über eine vermeintliche Revolution, die in einer Gewaltorgie sondergleichen endet. „Sundown“ könnte – bis auf wenige Szenen – inszenatorisch nicht entfernter davon sein. Statt Folter, Vergewaltigung und Mord gibt es hier vornehmlich lange, ruhige Einstellungen von einem Mann, der sich von seiner Umwelt mehr und mehr abnabelt und dem Müßiggang frönt. Selbst einen Gewaltakt in seiner unmittelbaren Nähe – ein Badegast wird in aller Öffentlichkeit erschossen – nimmt Neil regungslos hin, als sei es für ihn alltäglich.

Bis kurz vor Ende seines Films lässt Regisseur und Autor Franco sein Publikum im Unklaren darüber, was es mit dem seltsamen Verhalten seines Protagonisten auf sich hat. Doch selbst mit Kenntnis von dessen Motivation wirkt die ‚Auflösung‘ etwas unbefriedigend. Es mag daran liegen, dass Franco die erzählte Geschichte womöglich lediglich als Sinnbild für ein anderes inhaltliches Anliegen nutzt – zumindest wird dies hier und da von KritikerkollegInnen angeführt. Spiegelt „Sundown“ den Blick der Reichen auf ‚die da unten‘ wider? Erzählt der Film eine Aussteigergeschichte oder doch von schamloser Ausbeutung? Prangert Franco Gewalt, Bandenkriminalität und Habgier seiner eigenen (mexikanischen) Landsleute an? Es fällt schwer, das eigentliche Ziel von „Sundown“ zu entdecken. Was mich unweigerlich zum Schlusssatz meiner Rezension von „New Order“ führt: „Aber auch das ist Aufgabe von Kunst: Unterschiedliche Reaktionen hervorzurufen und auf jede/n Betrachterin/er anders zu wirken.“

Das (zweifellos ansehnliche) Agieren der Darsteller hilft da leider auch nicht weiter: Ähnlich wie Alice fragt sich der/die Zuschauer/in, was eigentlich mit Neil nicht in Ordnung ist, während dieser wortlos umher driftet und sein Handeln niemals erklärt. Kann man schon so machen. Mitunter wirkt diese bei Franco scheinbar sehr beliebte unendliche Interpretationsoffenheit jedoch dafür, dass mensch am Ende ein wenig frustriert den Abspann schaut.

Die Blu-ray/DVD bietet den Film in englischer Original- und deutsch synchronisierter Sprachfassung. Deutsche Untertitel sind optional vorhanden. Als Bonus gibt es den Trailer zum Film. „Sundown“ erscheint bei Elite Film AG (Ascot Elite Entertainment) und ist seit 16. September 2022 auch digital erhältlich. (Packshot + stills: © Ascot Elite Ent.)

Heimkino-Tipp: „Nebenan“ (2021)

Mein (un)bekannter Nachbar

Die Bezeichnung „er wirkt in seinen Filmen stets wie der nette Typ von nebenan“ kann für einen Schauspieler schnell zu einem Fluch werden. Nun will ich gar nicht erst auf den Zug aufspringen und Daniel Brühl als solch einen „Durchschnittstypen“ bezeichnen – denn das ist er allein aufgrund seines immensen Talents nun wirklich nicht. Ein Blick auf seine (deutsche) Filmografie zeigt jedoch, dass er gerade in Filmen, in denen er solche Figuren verkörpert hat, besonders eindrücklich war. Zu meinen Favoriten zählen dabei u.a. „Nichts bereuen“ (2001), „Ein Freund von mir“ (2006) und vor allem „Lila, Lila“ (2009). Quasi nebenbei hat sich Brühl aber auch international einen Namen gemacht und sowohl bei Tarantino („Inglourious Basterds“, 2009) als auch in Serie („The Alienist“/„Die Einkreisung“, 2018) und in Hollywood-Blockbustern („Rush“, 2013; „The First Avenger: Civil War“, 2016) gerockt. Kurz: Daniel Brühl ist inzwischen ein (verdienter) Weltstar.

Umso schöner/erstaunlicher, dass er dem deutschen Film weiterhin seine Treue hält und nun mit „Nebenan“ sogar ein Regiedebüt vorlegt, das zwar inmitten von Berlin spielt, aber eigentlich ein Kammerspiel ist. Meine Hoffnung: Durch Brühls Starstatus wird auch bei jenen Interesse für „den deutschen Film“ geweckt, die diesen sonst gerne ablehnend umschiffen. Ja, es ist ein anderer Stil und ja, es sind meist Darsteller beteiligt, die außerhalb Deutschlands vielleicht nicht so viele Filme gedreht haben. Doch mein Gott sind das großartige Künstler, die ein ums andere Mal begeistern und gehuldigt gehören. Peter Kurth zum Beispiel, der in „Nebenan“ den Antagonisten gibt.

Alias Bruno sitzt der zufällig(?) in derselben Kneipe, die der (fiktive) Filmstar Daniel (Brühl, der hier auch die Hauptrolle spielt) auf dem Weg zum Flughafen aufsucht, um sich bis zum Abflug ein wenig die Zeit zu vertreiben. Daniel gibt sich „volksnah“, posiert gern für Fotoanfragen junger Fans und erwidert höflich aber distanziert den Small Talk, in den Bruno ihn verwickelt. Je länger der Plausch jedoch dauert, umso unangenehmer wird er für den Promi. Denn Bruno scheint überraschend viel über Daniels Privatleben zu wissen – mehr als ein Nachbar, als der er sich ausgibt, wissen sollte.

Psychothriller, Drama, Tragikomödie: „Nebenan“ verwebt etliche Genres miteinander, die überraschend gut harmonieren. Das liegt einerseits am hervorragenden, spannend aufgebauten Drehbuch von Daniel Kehlmann (der u.a. ebenso den tollen „Ich und Kaminski“ (2015), ebenfalls mit Brühl, verfasste), andererseits an der nicht zu übersehenden Spielfreude von Brühl und Kurth. Hier der zunächst cool auftretende, später überaus verunsicherte Filmpromi, dort der undurchsichtige, scheinbar harmlose Nachbar, der einige Asse im Ärmel versteckt. In herrlichen Wortgefechten nimmt sich „Nebenan“ u.a. den Themen Starallüren, Lebenslügen, Gentrifizierung, Arbeitslosigkeit, gesellschaftlichen Vorurteilen, Nächstenliebe und künstlerischer Freiheit an, ohne dabei zu konstruiert zu wirken. Nein, hier entstehen die inhaltlichen Wendungen allein durch die realitätsnahen Dialoge, die vom Hölzchen aufs Stöckchen und wieder zurück pendeln. Hinzu kommen Gesten, Blicke und mitunter unerwartete Allianzen, die nicht minder vieldeutig sind. Inszeniert ist das Ganze angenehm zurückhaltend, jedoch nie theaterhaft oder statisch. Vielmehr ist hier viel Bewegung drin, was die Spontanität der Dialoge passend auf die Bildebene übersetzt.

Die Kneipe als Brennglas einer ganzen Gesellschaft: „Nebenan“ nimmt dieses Sinnbild großartig auf und lässt daraus ein wunderbares Stück Film erwachsen, über das es auch im Anschluss zu diskutieren lohnt.

Die DVD bietet den Film in deutscher Originalversion. Englische und deutsche Untertitel für Hörgeschädigte sind optional zuschaltbar, zudem ist eine Hörfilmfassung mit an Bord (toll!). Als Bonus gibt es eine Kurzdoku über Daniel Brühl als Regisseur und Trailer. „Nebenan“ erscheint bei Zorro Medien GmbH/ good!movies und ist seit 15. September 2022 auch digital erhältlich. (Packshot + stills: © Zorro Medien/good!movies/Reiner Bajo/Warner Bros. Ent.)

Heimkino-Tipp: „Der Schneeleopard“ (2021)

Die Beobachter

Eine der eindrücklichsten Szenen des Dokumentarfilms von Marie Amiguet und Vincent Munier eröffnet sich dem Publikum (fast) nur über die Tonspur: Es ist die Schilderung eines Ereignisses, das dem Wildlife-Fotografen Munier einst widerfahren ist, als er einen Leoparden beobachten und fotografieren wollte. Das Tier verschwand ganz plötzlich aus seinem Sichtfeld und tauchte auch nach mehreren Stunden des Wartens und Stillsitzens nicht mehr vor Muniers Kameralinse auf. Frustriert und überzeugt davon, den Leoparden als Motiv verloren zu haben, widmete er sein nächstes Foto einem Adler, der relativ nah vor ihm auf einem kleinen Felsvorsprung saß. Erst Monate später, beim Sortieren seiner Aufnahmen, bemerkte Munier, dass hinter dem fotografierten Felsen ein Ohr und ein Auge hervorlugten – es war der Leopard, der ihn die ganze Zeit selbst beobachtete und nicht aus seinem Sichtfeld entließ.

Diese wunderbare kleine Episode fasst sehr schön die Erkenntnis zusammen, die sich nach dem Genuss von „Der Schneeleopard“ bei den Zuschauern einprägt: Nicht wir Menschen sind die Beobachter, sondern wir selbst werden beobachtet. Jederzeit. Überall. Von Lebewesen, die wir selbst kaum noch wahrnehmen. Und wenn doch, dann meist nur mit einem flüchtigen Blick, ohne deren Schönheit und Eigenarten tatsächlich zu begreifen. Insofern ist es schon ironisch, dass es nun einen weiteren Film braucht, den mensch im Kino/Zuhause schaut, um sich der Einmaligkeit der Welt da draußen erst wieder bewusst zu werden.

Entstanden in einem der (wahrscheinlich) ruhigsten Flecken der Erde, im tibetischen Hochland, begleitet ein kleines Filmteam Munier und seinen Schriftsteller-Freund Sylvain Tesson auf der Suche nach dem titelgebenden Tier, von dem es wohl nur noch sehr wenige Exemplare gibt. Mit genauer Vorplanung, disziplinierten Tagesabläufen und viel Erfahrung gelingt es beiden, die Spur des seltenen Geschöpfs aufzunehmen, um es hoffentlich irgendwann vor die Kamera zu bekommen. Geduldig und bereit, Kälte und Gefahren zu ertragen, sitzen sie stundenlang in kleinen Verstecken und erleben dadurch nicht nur die Natur in all ihren Facetten hautnah, sondern lernen dabei auch viel über sich selbst.

Die Ruhe, die sie verinnerlichen und das wiederholte Staunen über das, was sie sehen, überträgt der Film formidabel auf sein Publikum. Klar, Schnitt und sich verändernde Kameraperspektiven unterstreichen und betonen einzelne Szenen zusätzlich. Und doch hat mensch den Eindruck, quasi ungefiltert die volle Breitseite von Muniers und Tessons Emotionen, Eindrücken und Erlebnissen zu erhalten. Sie führen Gespräche über die Rolle des Menschen, reflektieren ihr eigenes Verhalten gegenüber der Natur und genießen die völlige Abwesenheit von Zeit und den Krisen dieser Welt. Die wie immer tief berührende, aber niemals aufdringliche musikalische Untermalung des legendären Duos Warren Ellis und Nick Cave veredelt die Bildebene zudem mit einer zusätzlichen Note.

„Menschen werfen mir manchmal vor, dass ich nur die schönen Seiten der Welt fotografiere und all die schlimmen Sachen ignoriere“, sagt Munier sinngemäß an einer Stelle mit Blick auf sein eigenes Schaffen. Nur um gleich danach eine eigene Begründung anzuschließen: Sollten wir Menschen nicht viel mehr auf genau diese Wunder achten, die überall um uns herum tagtäglich geschehen? „Der Schneeleopard“ ist ein schönes Argument dafür, genau das viel öfter zu tun.

Die Blu-ray/DVD bietet den Film in französischer Original- und als deutsche Voice-over Fassung. Deutsche Untertitel sind optional vorhanden. Zudem gibt es diverses Bonusmaterial, u.a. zusätzliche Szenen und einen Musikclip. „Der Schneeleopard“ erscheint bei MFA+ FilmDistribution e.K. im Vertrieb von AL!VE und ist seit 2. September 2022 auch digital erhältlich. (Packshot + stills: © MFA+/Vincent Munier/Paprika Film & Kobalann Productions)