Heimkino-Tipp: „Vox Lux“ (2018)

A Star is Born

In der Psychologie beschreibt der sogenannte primacy effect die wissenschaftlich belegte Tatsache, dass früher eingehende Information besser erinnert wird als später wahrgenommene Infos. Der erste Eindruck ist daher von immenser Bedeutung, da dieser meist länger im Gedächtnis bleibt als alles, was danach kommt. Bezogen auf die Kunst, sind somit die ersten Seiten eines literarischen Werks, die ersten Töne eines Songs und die ersten Minuten eines Films ausschlaggebend für die Beurteilung durch den Rezipienten.

Regisseur Brady Corbet hat sich dies für sein Drama „Vox Lux“ zunutze gemacht und eine ungewöhnliche Form des Beginns gewählt, mit der auch schon sein französischer Kollege Gaspar Noé in „Irréversible“ experimentierte: die ersten Momente – nach einem nicht minder aufwühlenden Prolog – gehören dem Abspann des Films.

Es ist nicht die einzige formale Überraschung, die Corbet präsentiert: Unterteilt in zwei zeitlich voneinander getrennte Kapitel, erzählt er die Geschichte eines Popstars der 2000er-Jahre auch visuell bemerkenswert. So wechseln sich lange, scheinbar in einem Take gedrehte Szenen mit Zeitraffer-Sequenzen ab, wirkt gerade in den späteren Konzertszenen der Ton nicht optimal abgemischt und irritiert ein (im Original) von Willem Dafoe vorgetragener Off-Kommentar mit manch seltsamen Statements. Was in der Summe anstrengend klingen mag, ist in höchstem Maße kreativ – und ja, für den Zuschauer mitunter herausfordernd.

„Vox Lux“ fokussiert zunächst die Genese einer jungen Künstlerin namens Celeste (Raffey Cassidy), die nach einem einschneidenden Erlebnis zusammen mit ihrer Schwester Eleanor (Stacy Martin) einen Song komponiert, der landesweit förmlich durch die Decke geht. Begleitet von ihrem neuen Manager (Jude Law), reisen die beiden Mädels daraufhin nach Stockholm, um dort mithilfe eines erfahrenen Produzenten ein Album aufzunehmen – und erstmals fernab des Elternhauses ihre neugewonnene Freiheit zu genießen. Viele Jahre später ist Celeste (nun gespielt von Natalie Portman) ein Megastar und steht kurz vor der Präsentation einer neuen Show, als abermals unvorhergesehene Ereignisse ihren perfekt durchorganisierten Arbeitsalltag durcheinanderwirbeln.

Ja, so ein Musikerleben im Rampenlicht ist kein Zuckerschlecken. Das haben diverse ‚Dokumentationen‘ (wenn man sie so nennen will) aktuell erfolgreicher Popsternchen (u.a. Katy Perry, Justin Bieber) bereits verdeutlicht. „Vox Lux“ jedoch kratzt nicht nur an der Oberfläche, sondern stürzt sich mittenrein in das minutiös durchgeplante Dasein eines bejubelten Individuums. Allerdings nicht, um Mitleid zu generieren, sondern um aufzuzeigen, wie absurd und lebensfremd dieser ganze Irrsinn ist. Nicht nur bleiben familiäre Beziehungen auf der Strecke, sondern ebenso ein gesundes Maß an Rationalität.

Egoismus und der beständige Wunsch nach Bestätigung sind omnipräsent, alles wird dem Erfolg untergeordnet, was zählt ist das positive öffentliche Bild. Qualitativ ist die von Celeste geschaffene Musik lediglich Mittelmaß, das Rumgehopse auf der Bühne reines Blendwerk für meist junge Fans, die jede Standardansage zwischen den Songs zudem bejubeln, als sei es die Verkündung des immerwährenden Weltfriedens.

Apropos Musik: Die erfolgreiche australische Künstlerin Sia zeichnet für einen Großteil der Songs verantwortlich, als Produzent fungierte u.a. das norwegische Erfolgsduo Stargate, das in den vergangenen Jahren unzählige Welthits landen konnten. Dass Regisseur Corbet gerade sie für den Soundtrack auswählte, unterstreicht nur den ätzenden, satirischen Charakter seines Werks. Ob die Künstler dafür absichtlich austauschbare Durchschnittsware komponierten oder dem Regisseur schlicht auf den Leim gegangen sind, mag ich nicht zu beurteilen.

Andererseits bin vielleicht ich es, der „Vox Lux“ auf den Leim gegangen ist und etwas Kritisches hineininterpretiert, was letztendlich gar nicht vorhanden ist. Aber selbst dann ist der Film allein aufgrund der Derwisch-Performance von Natalie Portman ein Anschauen wert. Denn was sie hier abliefert, ist schlicht phänomenal und sehr viel Erinnerungswürdiger als Lady Gagas rührseliger Auftritt im völlig überschätzten „A Star is Born“. Auch da zweifle ich bis heute an der Ernsthaftigkeit der (prinzipiell ähnlichen) Geschichte, in der Künstler schlussendlich für ihr Aussehen und Getue mehr gefeiert werden als für anständiges, individuelles und erinnerungswürdiges Songschreiben.

Stichwort erinnerungswürdig: Anders als die (scheinbar) versteckte Kritik am Popbusiness in „Vox Lux“ gibt der herrlich übertriebene „Popstar: Never Stop Never Stopping“ dem Affen von Minute eins an ordentlich Zucker. Wer es also lieber direkt und ‚in the face‘ haben will und gleichzeitig Lust auf ein paar Ohrwürmer mit bösen Texten hat, dem sei die Komödie von 2016 sehr empfohlen! Am besten als Double-Feature mit diesem Streifen hier.

Die DVD/Blu-ray bietet den Film in englischer original und deutsch synchronisierter Sprachfassung. Deutsche Untertitel sind optional zuschaltbar. Als Extras gibt es Trailer und u.a. ein überaus seltsam geschnittenes Interview mit dem Regisseur, das einen gewissen Amateurfaktor nicht leugnen kann. „Vox Lux“ erscheint bei Koch Films und ist seit 16. April 2020 auch digital erhältlich (Packshots + stills: © Koch Films/Atsushi-Nishijima)

Heimkino-Tipp: „A Rainy Day in New York“ (2019)

NY, I love you

„Allens bester Film seit Jahren!“ ist so ein Standardsatz, den Filmkritiker in den vergangenen Jahrzehnten immer irgendwo in ihren Rezensionen zu Woody Allen-Streifen untergebracht haben. Dabei dreht der Mann so viel, dass nur eine Handvoll seiner Arbeiten länger als fünf Jahre im kollektiven Cineastengedächtnis erhalten bleiben und dieses Lob tatsächlich verdienen. Oder erinnert sich noch jemand an „Cassandras Traum“ (2007)? „Irrational Man“ (2015)? Und wer spielte eigentlich in „Wonder Wheel“ (2017) die Hauptrolle? Alle top besetzt, alle ‚typisch Allen‘, alle „endlich wieder Woody in Bestform“.

Diesen Kritiker-Persilschein gab’s für „A Rainy Day in New York“ nicht. Einer der Gründe dürften die wiederholten – bisher unbewiesenen – Anschuldigungen gegen Allen sein, er habe seine Adoptivtochter missbraucht. Es sind keine neuen Vorwürfe, was die plötzliche Bekehrung einstiger Allen-Fans etwas seltsam erscheinen lässt. Warum sie das vor der „#MeToo“-Bewegung nicht störte, bleibt ihr Geheimnis.

Wie also umgehen mit dem Werk eines Mannes, der möglicherweise sehr schlimme Dinge getan hat? Kann sein Œuvre unabhängig von eventuellen privaten Verfehlungen bewertet werden? Sollte es überhaupt veröffentlicht werden? Und wie halten wir, die Zuschauer, es mit dem Grundsatz In dubio pro reo („Im Zweifel für den Angeklagten“)? Etliche Mitwirkende von „A Rainy Day in New York“ spendeten ihre Gage für wohltätige Zwecke, das produzierende Studio hingegen cancelte die Veröffentlichung in Amerika ganz.

Ich versuche es mit Variante 1: Der Film spielt die Hauptrolle, alles andere drumherum soll die Wertung nicht beeinflussen. Geht leider komplett schief, da der gute Allen hier ausgerechnet eine Geschichte erzählt, in der eine sehr junge, naiv auftretende Frau (Elle Fanning) gleich von mehreren Männern mal mehr mal weniger offensiv umgarnt wird. Zwei der Kerle sind mehr als doppelt so alt wie sie. Uff! Parallel dazu schlendert ihr Boyfriend (Timothée Chalamet) grübelnd durch die Stadt und trifft dabei auf die Schwester (Selena Gomez) seiner früheren Liebe, die ihm in mehreren Situationen den Kopf geraderückt.

Viele Dialogszenen, ein wenig Jazz-Geklimper im Hintergrund und unzählige Figuren mit einer leicht angeknacksten Psyche: Willkommen in Allen-World! Eine Welt bevölkert mit von Selbstzweifeln zerfressenen Männern, und Frauen, die jede für sich ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Ob (oberflächlich) naives Dummchen, freches New York-Girl, Edelprostituierte oder Mama mit dunkler Vergangenheit: Sie alle agieren selbstbestimmt, unabhängig und auf eigene Rechnung, während ihre maskulinen Gegenüber scheinbar keine einzige Entscheidung allein fällen können. Das verpackt Allen in eine fluffig-leichte, wunderbar unaufgeregt erzählte Geschichte, die sich mehr und mehr als Dekonstruktion überholter Geschlechterrollen entpuppt. Ein schmerzhaft-amüsantes Guckerlebnis, je nachdem von welcher Seite man(n)/frau es betrachtet.

Das macht „A Rainy Day in New York“ ganz klar zu Allens bestem Film – zumindest in diesem Jahr.

Die DVD/Blu-ray bietet den Film in deutsch synchronisierter und englischer Originalsprachfassung. Deutsche Untertitel sind optional zuschaltbar. Als Extras gibt es Trailer. „A Rainy Day in New York“ erscheint bei Filmwelt Verleihagentur im Vertrieb von EuroVideo und ist seit 2. April digital sowie ab 23. April 2020 auf DVD/Blu-ray/VoD erhältlich. (Packshot + stills: © Filmwelt Verleihagentur / Gravier Productions, Inc. / Jessica Miglio)

Heimkino-Tipp: „Das perfekte Geheimnis“ (2019)

Stunde der Wahrheit

Läuft bei Bora Dagtekin: Nachdem er mit „Türkisch für Anfänger“ sowie den drei „Fack ju Göhte“-Filmen bereits große Erfolge verbuchen konnte, hat er auch mit seiner aktuellen Komödie „Das perfekte Geheimnis“ wieder mehrere Millionen Zuschauer ins Kino locken können. Für eine deutsche Produktion keine Selbstverständlichkeit, für den gebürtigen Hannoveraner aber wohl inzwischen erfreulicher Alltag. Sein Inszenierungsstil, gekennzeichnet von hohem Tempo sowohl bei der Kameraführung als auch beim Schnitt, geht einher mit einer beeindruckenden Gagdichte seiner Drehbücher und unübersehbar gut aufgelegten Darstellern, die sichtlich Spaß an den frechen, manchmal grenzwertig garstigen Dialogen haben.

In „Das perfekte Geheimnis“ darf sein Publikum einem Abendessen unter Freunden beiwohnen, die sich zum Teil schon seit Kindertagen kennen. Rocco (Wotan Wilke Möhring) und seine Frau Eva (Jessica Schwarz) haben eingeladen und begrüßen neben dem Ehepaar Leo (Elyas M‘Barek) und Carlotta (Karoline Herfurth) auch die Neuverliebten Simon (Frederick Lau) und Bianca (Jella Haase) sowie Pepe (Florian David Fitz) in ihren schnieken Wohnung zum gemeinsamen Speisen, Trinken und Klönen. Als die Plauderei beim Thema Handy ankommt, macht Eva einen ungewöhnlichen Vorschlag: Warum nicht alle Mobiltelefone für die Dauer des Essens auf den Tisch legen und jeden eingehenden Anruf und jede ankommende Nachricht mit den Anwesenden teilen? Nach anfänglichem Zögern lassen sich alle darauf ein – und lernen ihre Freunde in den nächsten Stunden von ganz neuen Seiten kennen.

Die spannende Prämisse des Films stammt von der 2016 in Italien entstandenen Tragikomödie „Perfect Strangers“, die seither weltweit adaptiert wurde. Dagtekin übernahm die Grundidee, passte das Skript aber seinem Stil an und veränderte vor allem im letzten Drittel den Verlauf der Handlung etwas. Dies brachte ihm von manchen Rezensenten Kritik ein, die sich einerseits an der Auflösung, andererseits vor allem an dem in manchen Szenen heftigen Schwulenbashing störten. Gerade letzteres stößt in der Tat etwas sauer auf, auch wenn Dagtekin versucht, dies mit einem Storykniff am Schluss zu relativieren.

Bis zu diesem Punkt jedoch ist „Das perfekte Geheimnis“ ein amüsanter Spaß. Jedes neue Piepen, Vibrieren und Klingeln der Telefone sorgt für Überraschungen, bringt die Protagonisten mal mehr, mal weniger ins Schwitzen und hält die Spannungskurve konstant hoch. Dass von den hier Anwesenden keine/r eine reine Weste hat, liegt in der Natur des Genres, sagt aber andererseits ebenso viel über Dagtekins Blick auf die Spezies Mensch aus: Jeder, mag er vordergründig auch sympathisch, hilfsbereit und ehrlich wirken, hat Dreck am Stecken und spielt selbst im Kreis seiner engsten Vertrauten immer nur eine Rolle. Ein ziemlich pessimistisches Weltbild, das die manchmal etwas aufgesetzt wirkende gute Laune der Akteure versucht zu überspielen.

Was nicht als harsche Kritik verstanden werden soll! „Das perfekte Geheimnis“ macht Spaß, ist überaus unterhaltsam und inspiriert sicherlich einige Freundeskreise, Ähnliches einmal selbst auszuprobieren. Nur das Ende des Experiments könnte in der realen Welt etwas anders aussehen.

Die Blu-ray/DVD bietet den Film in deutscher Originalsprachfassung sowie optionale englische und deutsche Untertitel für Hörgeschädigte. Eine Hörfilmfassung ist erfreulicherweise ebenso enthalten. Als Extras gibt es u.a. einen Audiokommentar, Outtakes, verlängerte Szenen, kurze Clips vom Set und den Dreharbeiten sowie Teaser und Trailer. „Das perfekte Geheimnis“ erscheint bei Constantin Film Verleih GmbH und ist seit 25. März 2020 auch digital erhältlich. (Packshot + stills: © Constantin Film)