Heimkino-Tipp: „Geständnisse“ (2010)


Eine Ansammlung von Superlativen wäre wohl die einzige halbwegs gerechtfertigte Rezension über Tetsuya Nakashimas Ausnahmewerk „Geständnisse – Confessions“. Denn: Verstörender, aufregender, außergewöhnlicher geht kaum.

Das zeigt sich bereits zu Beginn dieses irgendwo zwischen Psychothriller, Horrorfilm und Gesellschaftsdrama angesiedelten cineastischen Albtraums aus Bild und Ton. Dies ist keineswegs negativ gemeint, vielmehr ein Versuch, das Gesehene/Gehörte halbwegs akkurat zu beschreiben. Unterteilt in mehrere Kapitel, Geständnisse, die die fortschreitende Handlung jeweils aus der Sicht eines anderen beschreiben, lässt der Film sein verdutztes Publikum eine perfide Rachephantasie miterleben, die in Teilen auch blutig daherkommt, seine Protagonisten (und mitleidenden Zuschauer) jedoch vielmehr psychologisch an Grenzen bringt. Wohlgemerkt: Das alles klingt möglicherweise abstoßend, ist aber nur der Hintergrund für ein Genresprengendes Stück Film, das mutiger kaum sein könnte.

Das erste Geständnis im Film macht die Lehrerin Yuko Moriguchi (Takako Matsu) vor ihrer tobenden Klasse kurz vor Ferienbeginn. Sie erzählt von der Liebe zu einem Mann, seiner HIV-Infektion, einem Kind der Liebe und dessen Tod durch die Hand zweier Jugendlicher, die ob ihres Alters vom Gesetz her noch nicht für ihr Handeln belangt werden können. Aber Yuko kann. Denn sie weiß, wer die Täter sind und wird diese nun bestrafen – indem sie ihnen das Blut ihres kranken Gatten in die Milch mischt.
Der Zuschauer wie auch die Klassenkameraden wissen zu diesem Zeitpunkt längst, wer gemeint ist, und während der Eine sich daraufhin zu Hause eingräbt, einem Zombie gleich sein (Rest-)Dasein fristet und die eigene Mutter zunehmend zur Verzweiflung bringt, wagt es der andere, weiterhin in die Schule zu gehen – und sich der Häme, des Spotts und der Verachtung seiner Mitschüler auszusetzen.
Hier beginnt das zweite Geständnis, das die Geschichte nun aus Sicht einer der Schülerinnen erzählt, das Mobbing im Klassenraum zeigt und dem Film eine neue Handlungsebene eröffnet. Dieses Stilmittel nutzt Regisseur Nakashima immer wieder und taucht dabei fast unmerklich tiefer und tiefer in die Seelen seiner Figuren ein, um deren Motivation zu verdeutlichen – bis zum bitteren Ende.

Formal geht „Geständnisse – Confessions“ auch ungewöhnliche Wege. So breitet der Film die erste Episode auf nicht weniger als eine halbe Stunde aus, in denen die Lehrerin lediglich ihre Geschichte erzählt. Allerdings in einer Art und Weise, die bereits nach den ersten fünf Minuten einen Sog entfaltet, der bis zum Abspann auch nicht nachlässt. Ein Großteil der Szenen ist zudem nur in Zeitlupe zu sehen, was die perfekte Komposition der eingefangenen Bilder noch einmal unterstreicht. Man starrt, staunt, schluckt.
Vielleicht auch, da Nakashimas Adaption einer Geschichte von Kanae Minato etliche Verweise auf die japanische Gesellschaft enthält, deren Missstände und Tabus als Auslöser für all die Katastrophen gelten können, die den Figuren widerfahren: Mobbing, Gewalt unter Schülern, Aids, Suizid, Amokläufe, die Rolle der (egal ob verheiratet oder nicht) überforderten, alleinerziehenden Mutter, der Wunsch nach Anerkennung – nichts, was es nicht auch in anderen Kulturkreisen gibt.

Ob Warnung, Unterhaltung oder Filmkunst in einer nahezu perfektionierten Form: „Geständnisse – Confessions“ kann vielfältig interpretiert werden. Verpassen sollte man ihn nicht.

Die DVD bietet den Film in deutsch synchronisierter und japanischer Sprachfassung, deutsche Untertitel, ein Making of (70 Minuten!), Trailer, sowie – als besonderes Bonbon – ein ausführliches Booklet. Die BluRay beinhaltet darüber hinaus noch zusätzliche Interviews. „Geständnisse - Confessions“ ist erschienen bei Rapid Eye Movies/Al!ve AG und seit 18. November 2011 erhältlich.

Heimkino-Tipp: „Das Lied in mir“ (2010)


Was heißt es eigentlich, ein Naturtalent zu sein? Gewöhnlich ist das eine Person, die, ohne eine entsprechende Ausbildung absolviert zu haben, eine Tätigkeit bravourös, ausgezeichnet, erinnerungswürdig ausführen kann. Auf Aktrice Jessica Schwarz trifft dies zweifellos zu. Nach Model-Arbeit und TV-Moderation scheint sie in der Schauspielerei nun ihre Berufung gefunden zu haben. Wer nach den vielen guten Filmen der vergangenen Jahre („Nichts bereuen“, „Der Rote Kakadu“, „Die Tür“), Kritikerpreisen und meiner Schwärmerei immer noch zweifelt, dem sei „Das Lied in mir“ ans Herz gelegt, in dem sie zwar wenig spricht, aber doch viel zu sagen hat, wie es ein Journalisten-Kollege zum Kinostart treffend formulierte. Eine nuancierte Performance, die Schwarz schlicht brillant gibt und für die sie in der Tat kaum Worte benötigt.

Das Regiedebüt von Florian Cossen beginnt mit einem Zufall: Auf dem Flughafen in Buenos Aires nimmt Maria (Schwarz) eine Frau wahr, die ihrem Baby ein spanisches Kinderlied vorsummt. Ohne das Lied zu kennen, singt Maria den Text mit und bricht kurz darauf völlig aufgelöst zusammen. Der Flug ist pfutsch, aber Maria will die Zeit bis zur Weiterreise nutzen, um diesem seltsamen Vorfall auf den Grund zu gehen. Kurz darauf steht ihr überraschend ihr Vater Anton (nicht minder großartig: Michael Gwisdek) im Hotel gegenüber, in das sich Maria vorübergehend eingemietet hat. Er gesteht ihr, dass er lediglich ihr Ziehvater sei und ihre wahre Familie aus Argentinien stamme. Eine Wahrheit, die er ihr nahezu 30 Jahre verschwiegen hat. Verstört und neugierig will sie nun ihre Verwandten wiederfinden.

Was als Identitätssuche einer jungen Frau beginnt, entwickelt sich mit zunehmender Laufzeit zu einer bewegenden Bestandsaufnahme eines Landes, in dem die Folgen einer jahrelangen Diktatur noch immer präsent sind. Für ein Erstlingswerk eines deutschen Filmemachers ein beachtliches Thema, das leicht in den Untiefen einer schmalzigen TV-Produktion hätte enden können. Cossen und seine Co-Autorin Elena von Saucken haben in ihrem klugen Drehbuch allerdings Figuren erschaffen, die Brüche haben, Geheimnisse in sich tragen und alles andere als eindimensional sind. So hadert Maria nach der erschütternden Enthüllung ihres ‚Vaters’ Anton am Frühstückstisch, ob sie ihn verdammen oder dankbar gegenüber treten soll. Fakt ist, er hat sie ihrer Wurzeln beraubt, sie nach Deutschland entführt und ist nicht bereit, seine Tat als verwerflich zu bereuen. Fakt ist aber ebenso, dass Maria als Kind von Regierungskritikern ohne Antons Hilfe in Argentinien wohl nicht überlebt hätte. Marias wiederentdeckte Tante (Beatriz Spelzini) fordert zwar vehement eine Bestrafung des Entführers. Aber kann und will Maria den Mann, bei dem sie glücklich aufgewachsen ist, von einem Augenblick auf den anderen aus ihrem Leben verbannen?
Nicht anders verhält es sich mit Alejandro (Rafael Ferro), einem Polizisten, der Maria als Übersetzer zur Seite steht. Er weiß, dass sein Vater Teil des Unterdrückungsapparates war, wagt es aber aus Angst vor schmerzhaften Wahrheiten nicht, ihn danach zu fragen. Quasi als Absolution für dessen Taten, hilft er Maria und ihrer neugewonnenen, wiedergefundenen Familie beim Kennenlernen.

Bei dieser Anzahl von Charakteren, die jeder ihr eigenes Päckchen zu tragen haben, ist eine für alle Seiten befriedigende Auflösung kaum möglich. Dass Regisseur Cossen seinen Film schlussendlich auf eine Weise enden lässt, bei der einige Fragen unbeantwortet bleiben, wird nicht jedem Zuschauer schmecken. Cossen deshalb jedoch Feigheit vor einer klaren Aussage vorzuwerfen, wäre nicht gerechtfertigt. Seine Entscheidung resultiert wohl eher aus dem Wissen, dass ein Prozess der Selbstfindung, das Zusammenwachsen einer Familie, das Akzeptieren von menschlichen Schwächen und das Nachwirken historischer Ereignisse nicht in 90 Spielfilmminuten abgehandelt werden können. Warum dann aber all das in einen einzigen Film packen? Vielleicht weil es nicht voneinander trennbar ist. Und weil es „Das Lied in mir“ zu einem bemerkenswert mutigen Film macht.

Die DVD bietet den Film in deutscher Fassung mit spanischen und englischen Textpassagen (untertitelt). Als Extras gibt gestrichene Szenen, kurze, aber schön anzusehende Fotosammlungen (Bilder vom Set und von den Drehorten), ein kurzes Stadtporträt von Buenos Aires, sowie einen Audiokommentar und Trailer. „Das Lied in mir“ ist erschienen bei Schwarz Weiss Filmverleih / Indigo und seit 11. November 2011 erhältlich.

„Der Fall Chodorkowski“ (Kinostart: 17. November 2011)

Es mutet schon ein wenig seltsam an: Besucht der russische Ministerpräsident Wladimir Putin die sächsische Landeshauptstadt, so wird er dort stets ehrenvoll und stolz empfangen. Immerhin lebte er mehrere Jahre in Dresden und wurde hier zum zweiten Mal Vater. Dass sein Aufenthalt vornehmlich beruflich bedingt war – in Funktion eines KGB-Offiziers – gerät dabei gern in Vergessenheit. Umso bedeutender erscheint die Ankündigung, dass der Regisseur Cyril Tuschi am kommenden Freitag (18.11.2011, 20 Uhr, Filmtheater Schauburg) Station in Dresden macht, wo er seine Dokumentation „Der Fall Chodorkowski“ vorstellen will.

Der über fünf Jahre entstandene Film widmet sich einem der spektakulärsten und gleichsam umstrittensten Prozesse der russischen Justizgeschichte. Michail Chodorkowski, einst der wichtigste und reichste Unternehmer in Putins Reich, sitzt seit 2003 im Gefängnis. Offizielle Begründung: Steuerhinterziehung. Seit seiner Verhaftung ist es international jedoch ein offenes Geheimnis, dass der Ölmagnat und Intimfeind von Putin aus politischem Kalkül aus dem Verkehr gezogen wurde. Denn obwohl er zunächst selbst vom „System Putin“ profitierte, unterstützte er später die politische Opposition und kritisierte offen die Korruption im Lande.

Der Autor und Filmemacher Tuschi vermeidet es, Chodorkowski plump zu heroisieren oder Putin an den Pranger zu stellen. Vielmehr gelingt ihm ein souverän recherchiertes, detailliertes Porträt eines Mannes, das er ausgewogen und spannend aufbereitet, dabei aber auch das knallharte kapitalistische Kalkül von Chodorkowskis Handeln verdeutlicht. Interessante Interviewpartner wie Joschka Fischer geben zudem Einblicke in politische Gegebenheiten, animierte Sequenzen zeigen Szenen, die nur auf Vermutungen basieren. Tuschi ist somit auch auf optischer Ebene ein fabelhafter Wirtschaftskrimi gelungen, der den Blick auf gesellschaftliche Zusammenhänge schärft und statt Polemik Fakten präsentiert. Das war wohl auch der Grund, weshalb gleich zweimal (u.a. kurz vor der Uraufführung auf der Berlinale 2011) im Büro des Regisseurs eingebrochen und Festplatten mit dem Film von Unbekannten entwendet wurden.

Aus dem „Meißner Tageblatt“ vom 16. November 2011.

... im Nachgang: „Melancholia“ (Kinostart: 06.10.2011)

Siehe da, die Welt ist (noch) nicht untergegangen. Wie es hätte aussehen können, zeigt Lars von Trier in „Melancholia“. Was wir vom Kinokalender Dresden dazu zu sagen haben, lest ihr HIER.