Heimkino-Tipp: „In der Nacht des 12.“ (2022)

Die endlose Suche

Wie sieht realistische Polizeiarbeit aus? Endet ein Fall stets mit einem bewaffneten Einsatz, wie es der wöchentliche „Tatort“ suggeriert? Oder gibt es pausenlos Action und Verfolgungsjagden à la „Lawman“, einer ‚Reality‘-Serie aus den USA, in der uns Steven Seagal seinen aufregenden, ähh, Polizistenjob ‚hautnah‘ miterleben lässt? Die Vermutung liegt nahe, dass es eher ein trockener Schreibtischjob mit gelegentlichen Ortsbegehungen und Befragungen ist, wie es Regisseur Dominik Moll in seinem Film „In der Nacht des 12.“ schildert. Basierend auf einem realen Mordfall und einem daraufhin entstandenen Buch von Pauline Guéna, begleitet die Adaption ein Ermittlerteam in seinem Alltag – und zeigt die oftmals frustrierende Puzzelarbeit, die für das Finden der Täter essenziell ist.

In einer Kleinstadt wird eine junge Frau (Lula Cotton-Frapier) auf ihrem nächtlichen Heimweg auf äußerst brutale Weise ermordet. Der neue Teamleiter Yohan (Bastien Bouillon) wird mit der Aufklärung des Falls beauftragt und nimmt zusammen mit seinen Kollegen die Spurensuche auf. Neben einer ausführlichen Tatortbesichtigung, dem Infomieren der Opfer-Eltern und ersten Befragungen vor Ort, ist es vor allem zunächst bürokratischer Kram, der von Yohan bewältigt werden muss. Nach und nach erschließt sich den Ermittlern der Charakter und das Umfeld der Getöteten, doch eine wirklich heiße Spur findet sich zunächst nicht. Je länger die Tätersuche dauert, umso mehr frisst sich der Fall in die Psyche von Yohan und die seiner Kollegen.

Ein Kritiker, der auch im Trailer zum Film zitiert wird, nennt „In der Nacht des 12.“ „‚Zodiac‘ im französischen Stil“. Die Parallelen sind erkennbar, denn David Finchers Thriller von 2007 widmete sich ebenso ausführlich einer langwierigen, psychisch belastenden und von zahlreichen Rückschlägen gezeichneten Killersuche durch Polizisten und Journalisten. Dessen Spannungslevel und optische Brillanz erreicht Molls Film jedoch nicht. Was nicht als Makel interpretiert werden soll! Denn „In der Nacht des 12.“ legt andere Schwerpunkte und macht schon mit einer Texteinblendung gleich zu Beginn klar, dass der gezeigte Fall ein ungelöster ist.

Zwar kann ich persönlich diese Entscheidung des Regisseurs nicht nachvollziehen, denn sie raubt dem Film damit tatsächlich einen großen Teil der Spannung. Allerdings schafft Moll damit Raum für andere interessante Details – hauptsächlich der Frage nach der Rolle der Frauen in einer leider immer noch von Männern dominierten Welt. Dies spiegelt sich u.a. auch darin wider, dass erst nach 75 Minuten eine Frau in die Handlung integriert wird, die auf Augenhöhe mit dem bis dahin präsentierten rein männlichen Ermittlungsteam ist. Zuvor sind sämtliche weiblichen Figuren entweder Opfer oder aus dem näheren Bekanntenkreis der Opfer, sprich: nettes Beiwerk.

So hoch ich Regisseur Moll diese Fokussierung anrechne – richtig zu Ende geführt ist sie leider nicht. Auch bleibt das Privatleben des Protagonisten Yohan seltsam unbeleuchtet, während sein cholerisch veranlagter Kollege (Bouli Lanners) überraschend viel Screentime und Backstory erhält, nur um im weiteren Verlauf ziemlich abrupt komplett aus der Handlung zu verschwinden.

Oder ist dies genauso beabsichtigt? Denn „In der Nacht des 12.“ will gar nicht mehr sein als ein zeitlich begrenzter Einblick in das (Berufs-)Leben von Polizisten, die oft jahrelang an Fällen knobeln und recherchieren, und lernen müssen, offene Enden zu akzeptieren. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, ist dieser Film ein gelungenes Werk. Hierfür erhielt er bei den diesjährigen César-Awards (dem französischen Filmpreis) gleich sechs Auszeichnungen – u.a. als „Bester Film“, für die „Beste Regie“ und für die beiden männlichen Darsteller.

Witziges Detail am Rande: Ausgerechnet in diesem Jahr erhielt David Fincher den Ehren-César.

Die Blu-ray/DVD bietet den Film in französischer Original- und deutsch synchronisierter Sprachfassung. Deutsche Untertitel sind optional vorhanden. Als Bonus gibt es den Trailer zum Film. „In der Nacht des 12.“ erscheint bei Elite Film AG (Ascot Elite Entertainment) und ist seit 14. April 2023 auch digital erhältlich. (Packshot + stills: © Ascot Elite Ent.)

Heimkino-Tipp: „Babylon“ (2022)

Rausch der Ekstase

Es wirkt zunächst wie ein Widerspruch: Während einer Zeit, in der Filme noch stumm waren, feierten all jene, die zu ihrer Entstehung beitrugen, umso lauter. So zumindest suggeriert es Damien Chazelles Drei-Stunden-Epos „Babylon“, welches vom Aufstieg und Fall einiger (fiktiver) Stars jener Zeit erzählt. Bis zum letzten Frame vollgepackt mit bekannten Gesichtern, Musik und Exzess, ist sein Werk eine Tour de Force sondergleichen, die viele – wortwörtliche – Höhepunkte bietet, auf ganzer Länge aber auch etwas abschlafft, um im selben sprachlichen Bild zu bleiben.

Allein die ersten 30 Minuten, quasi die Pre-Title-Sequenz, muten an wie ein Besuch in Sodom und Gomorra: Zusammen mit dem Kellner Manny (Diego Calva) nimmt Chazelle sein Publikum mit auf eine Hollywood-Party Mitte der 1920er-Jahre, bei der es viele nackte Körper, noch mehr Alkohol und Drogen und sogar einen Elefanten zu sehen gibt. Die Kamera tanzt dabei ebenso zügellos durch die Räume wie der überforderte Manny, während die Jazzband des Musikers Sidney (Jovan Adepo) für die richtige Stimmung sorgt und die (noch) unbekannte, aber sehr selbstbewusste Nellie LaRoy (Margot Robbie) ihren ersten „Auftritt“ hinlegt, der ihr am Ende der Nacht den Zutritt zur Traumfabrik beschert.

In dieser ist der Schauspieler Jack Conrad (Brad Pitt) längst ein Kassenmagnet. Sturzbesoffen, von seinem Talent überzeugt und mit viel „kreativem“ Einfluss auf die Filme, in denen er mitwirkt, hangelt er sich von Party zu Party und von Ehe zu Ehe. Er ist es schließlich auch, der Manny zu seinem Assistenten macht, was dem fleißigen jungen Burschen ebenso die Tür zu den Filmstudios öffnet.

Das Leben meint es gut mit Nellie, Manny, Sidney und Jack – bis etwas Neues nicht nur ihre Karrieren, sondern das gesamte Filmbusiness komplett verändern soll: der Tonfilm.

Mit „Babylon“ hat Regisseur und Autor Chazelle quasi das laute und frivole Gegenstück zum Oscar-Abräumer „The Artist“ (2011) geschaffen, der eine ähnliche Geschichte etwas braver, aber nicht minder unterhaltsam erzählte – damals jedoch als Stummfilm. Konzentrierte sich das französische Kleinod noch nur auf zwei Figuren, versucht sich „Babylon“ an einem Mehrfachporträt (Altstar, aufstrebende Aktrice, Bühnenhelfer) – und gerät wohl gerade wegen seiner stolzen dreistündigen Laufzeit etwas aus dem erzählerischen Fokus. Glück fürs Publikum! Denn so gibt es endlich einmal einen ‚ehrlicheren‘ Blick hinter die Kulissen einer Filmproduktion: Nicht weniger als 15 Minuten zeigt Chazelle beispielsweise auf sehr amüsante Art, wie schwierig es ist, eine Mini-Szene zu drehen und ‚in den Kasten zu bekommen‘ – und was dabei alles schiefgehen kann. Herrlich!

Und ganz ehrlich: Wenn Magot Robbie und Brad Pitt ständig über die Leinwand tänzeln, sind drei Stunden doch problemlos zu ertragen. Robbie lässt komplett die Sau raus und macht mit ihren Schimpftiraden sogar Joe Pesci in „Casino“ Konkurrenz, während Pitt das schmerzhafte Karriereende seiner Figur nuanciert aufzeigt und fühlbar macht.

„Babylon“ ist Chazelles Liebeserklärung an das Wunder Filme und alle jene, die sie erschaffen. Hier und da vielleicht etwas zu speziell und wohl vor allem für Cineasten ein Fest, die sich mit der Materie, den Zitaten und dem Business hinter den Kulissen ein wenig mehr auskennen, lohnt der Streifen jedoch schon allein wegen seiner „production values“ – was hier an Sets, Komparsenmassen und Ausstattung aufgefahren wird, gibt’s heute meist nur noch ausm Computer. In „Babylon“ aber ist der Exzess noch echt.

Die 4K Ultra HD/Blu-ray/DVD-Disc bietet den Film in englischer Original- und deutsch synchronisierter Sprachfassung. Untertitel sind ebenso optional vorhanden. Als Bonus gibt es (außer auf der DVD) u.a. Interviews, Behind-the-Scenes-Featurettes und entfallene Szenen. „Babylon – Rausch der Ekstatse“ erscheint am 6. April z.B. als Steelbook bei Paramount Pictures / Universal und ist seit 20. März 2023 bereits digital erhältlich. (Packshot + stills: © Paramount Pictures)