Heimkino-Tipp: „Anatomie eines Falls“ (2023)

Cannes’ Film des Jahres

Okay, das war mir neu: In Cannes werden nicht nur Preise an RegisseurInnen, DarstellerInnen und AutorInnen vergeben – sondern auch an Hunde! Die „Palm Dog“ bzw. der „Palm Dog Award“ zeichnet seit 2001 außergewöhnliche Leistungen von Vierbeinern in Filmen aus. So gewannen u.a. bereits der Jack Russell Terrier Uggie (aus „The Artist“) sowie die Englische Bulldogge Nellie („Paterson“) diesen Preis, der 2023 an Messi ging, einem Border Collie, der in „Anatomie eines Falls“ auftritt. Nach Schauen des auf der DVD/Blu-ray befindlichen Hinter-den-Kulissen-Clips, der das Training von Messi thematisiert, ist auch klar warum. Bravo!

Messi spielt zwar nur eine kleine, aber im Verlauf des Films doch nicht ganz unbedeutende Rolle in dem mit der Goldenen Palme, einem der Hauptpreise des Festivals in Cannes, ausgezeichneten Werks von Justine Triet. Familiendrama? Gerichtsthriller? Krimi? „Anatomie eines Falls“ einem Genre zuzuordnen, fällt schwer. Dabei liegt die Mehrdeutigkeit schon im Titel selbst, behandelt der Film doch sowohl einen Fenstersturz als auch die juristische Auseinandersetzung danach: Samuel (Samuel Theis), der Mann von Sandra (Sandra Hüller, für diese Rolle für den Oscar als Beste Hauptdarstellerin nominiert), liegt eines Tages tot vor dem gemeinsamen Haus in den französischen Alpen. Ist er bei Renovierungsarbeiten im Obergeschoss aus dem Fenster gefallen? Hat er Suizid begangen? Oder wurde er ermordet? Für die Ermittler ist schnell klar, dass nur Letzteres passiert sein kann, weshalb Sandra fortan als Hauptverdächtige gilt und ihr nun vor Gericht der Prozess gemacht wird. Zeugen gibt es keine, doch jede Menge Indizien, Vermutungen, offene Fragen – und die Aussagen von Daniel (Milo-Machado-Graner), Samuels und Sandras gemeinsamen Sohn. Der Elfjährige war zum Zeitpunkt des Ereignisses mit seinem Hund Gassi gehen – und ist zudem fast blind. Und doch wird er bald zu einer Schlüsselfigur in der Gerichtsverhandlung.

Was „Anatomie eines Falls“ von etlichen anderen ‚Gerichtsfilmen‘ unterscheidet, ist einerseits die ausschließliche Fokussierung der Handlung auf die Familie und andererseits das Unwissen der Zuschauer. Denn ebenso wie Daniel als auch diejenigen, die den Prozess im Saal verfolgen, wissen sie nicht, was tatsächlich passiert ist. So bleibt dem Publikum – im Gerichtssaal und vor dem Fernseher – nichts anderes übrig, als sich aus den präsentierten Puzzleteilen ein eigenes Urteil zu bilden. Ein spannendes Experiment, das Regisseurin Triet überwiegend formidabel inszeniert. Besonders eindrücklich gelingt ihr das in Szenen, die zwischen sichtbar und nur hörbar variieren und so verdeutlichen, dass allein Worte und Geräusche ausreichen können, um etwas zu kreieren, das sehr real wirkt – obwohl es nur der Vorstellungskraft entspringt.

Darstellerisch ist es natürlich vor allem Sandra Hüller, die nicht nur mit ihrer Körpersprache, sondern auch mit ihrer sprachlichen Virtuosität beeindruckt und begeistert. Ebenso wie einst Christoph Waltz in „Inglourious Basterds“ wechselt sie in der Rolle einer Deutschen – zumindest in der Originalsprachfassung – mühelos vom Englischen ins Französische, lässt dabei aber stets etwas Unsicherheit durchscheinen, wenn sie sich in einer Sprache, die für ihre Figur nicht die Muttersprache darstellt, vor Gericht verantworten muss und letztlich um ihre Freiheit kämpft.

Ganz ohne ‚Aber‘ geht diese Lobhudelei jedoch nicht durch. Denn was auch immer sich Regisseurin Triet (und/oder ihr Kameramann Simon Beaufils) dabei gedacht haben: Manch kurze Mätzchen auf der Bildebene erschließen sich mir einfach nicht. So gibt es beispielsweise im Gerichtssaal seltsame Kameraschwenks oder amateurhafte Zooms, die sich inhaltlich nicht erklären lassen. An anderer Stelle sind diese Wackelbilder jedoch ganz bewusst eingestreut, um die Beweisaufnahme am Tatort zu illustrieren. Was also ist da am Drehort Gericht passiert? Ist womöglich versehentlich ein Outtake in die finale Fassung reingerutscht? Ein anderer Kritikpunkt: Auch wenn Sohnemann Daniel das Kind zweier Intellektueller ist: Einige seiner Gesprächskommentare wirken doch etwas zu erwachsen für sein Alter. Es sind kleine Schwächen wie diese, in denen jene Künstlichkeit durchschimmert, die in meinen Augen den oben benannten experimentellen Charakter der Geschichte entlarvt.

Doch dies schmälert diese spannende ‚Versuchsanordnung‘ zu den Themen Wahrheitsfindung, Jury-Beeinflussung (ergo: Zuschauermanipulation) und Szenen einer Ehe keineswegs. Vielmehr gelingt es „Anatomie eines Falls“ eindrucksvoll zu verdeutlichen, wie jede Entscheidung, jedes Wort und jede Handlung sowohl für uns sprechen als auch gegen uns verwendet werden kann.

Die 4K Ultra HD/Blu-ray/DVD-Disc bietet den Film in französisch-englisch-deutscher Original- und deutsch synchronisierter Sprachfassung. Deutsche Untertitel sind optional vorhanden. Als Bonus gibt es Trailer, ein Interview mit der Hauptdarstellerin, besagte Featurette zum Dreh mit einem Hund und je nach gewählter Edition noch weitere Extras. „Anatomie eines Falls“ erscheint bei Plaion Pictures und ist seit 29.(!)Februar 2024 auch digital erhältlich. (Packshot + stills: © Les Films Pelléas/Les Films de Pierre/Plaion Pictures GmbH)

Heimkino-Tipp: „Dumb Money – Schnelles Geld“ (2023)

Der Schrecken der Wall Street

Möglicherweise hätte es diese – wahre – Geschichte ohne die Corona-Pandemie nie gegeben. Denn wenn es etwas gab, das Menschen während der Lockdowns zur Genüge hatten, so was das Zeit. Zeit, ihre Wohnungen zu renovieren (man erinnere sich an die Menschenmassen in und vor den Baumärkten), sich bescheuerten Verschwörungstheorien anzuschließen, oder sich mal in Ruhe den eigenen Finanzen zu widmen. Letzteres bei einigen wohl auch aus der Not heraus, eine alternative Einkommensmöglichkeit zu finden, da sie im Zuge der Pandemie ihren Arbeitsplatz verloren hatten.

Was also tun, wenn Nebenjobs rar sind und die ganze Welt im Schlafmodus zu Hause hockt? Der Amerikaner Keith Gill, der zu jener Zeit bei einer Versicherungsgesellschaft arbeitete, handelte privat mit Kleinaktien. Auf Youtube und über die Website ‚Reddit‘ postete er darüber und argumentierte, dass die Aktie des Unternehmens „GameStop“, das sich auf den physischen Verkauf von Videospielen konzentriert, seiner Einschätzung nach unterbewertet sei. Keith investierte in sogenannte Long-Positionen in Höhe von 53.000$, er würde also von einer Wertsteigerung der Aktie profitieren. Damit positionierte er sich gegen die mächtigen Wall Street-Hedgefonds (Investmentfonds), die genau aufs Gegenteil, nämlich einen weiteren Werteverfall der Aktien spekulierten – kein Wunder, hatte doch die Pandemie auch dazu beigetragen, dass Menschen bevorzugt online Spiele kauften und physische Medien ohnehin seit Jahren immer weniger Absatz fanden.

Womit die großen Player der Wall Street jedoch nicht rechneten: Keiths Videos und Posts gingen viral und viele Kleinanleger folgten seinem Beispiel, was die „GameStop“-Aktie in ungeahnte Höhen trieb – und das in einem sehr sehr kurzen Zeitraum: Innerhalb 16 Tage stieg der Kurs von 20$ (12. Januar 2021) auf unglaubliche 480$ (28. Januar 2021) pro Aktie. Dass dies nicht ohne negative Folgen sowohl für Keith als auch seine einflussreichen Gegner bleiben sollte, davon erzählt der Film „Dumb Money“.

Regisseur Craig Gillespie („I, Tonya“, „Cruella“) inszeniert das Ganze ähnlich temporeich und ungezwungen wie es sein Kollege Adam McKay mit „The Big Short“ und „Vice – Der zweite Mann“ vorgemacht hat, indem er komplizierte Sachverhalte zwar nicht vereinfacht, aber mit Charme, Witz und charismatischen Darstellern versucht verständlich aufzubereiten. Das gelingt ihm bei „Dumb Money“ vor allem in der zweiten Hälfte ganz gut, während sein Film das Publikum zuvor leider etwas zu derb mit Fachbegriffen, Informationen und Charakteren bombardiert, was Zuschauer, die sich mit der Materie weniger gut auskennen (der Rezensent eingeschlossen), überfordern kann (Falls es doch nur meine eigene Wahrnehmung ist, habe ich wohl existenzielle Allgemeinbildungslücken).

Nichtsdestotrotz gelingt es dank der tollen Besetzung und deren wunderbarem Spiel schnell, die Fronten zu klären und Gut von Böse zu unterscheiden. Paul Dano alias Keith Gill ist ein sympathischer Nerd, während seinen Gegenspieler (dargestellt u.a. von Seth Rogen, Sebastian Stan, Vincent D’Onofrio, Nick Offerman) ihre Überheblichkeit und ihren unerhörten Reichtum quasi für jeden sichtbar vor sich herschieben. Inhaltlich gewinnt die Story zusätzlich durch die Einbindung mehrerer Kleinanleger-Figuren, die letztendlich den Erfolg der „GameStop“-Aktien erst ermöglichten, indem sie Keiths Beispiel folgten und damit den Hedgefonds-Managern schlaflose Nächte bereiteten. Nebenbei verdeutlichen kurze, amüsante Clip-Montagen zudem, welchen popkulturellen Einfluss Filme wie „The Wolf of Wall Street“ auf die Gesellschaft und den Blick auf die Finanzwelt haben.

„Dumb Money“ ist hier und da etwas zu speziell und verkopft, um in einer Liga wie „The Big Short“ mitspielen zu können. Als Zeitdokument für Ereignisse während der Pandemie und als Erinnerung daran, dass David auch im 21. Jahrhundert noch gegen Goliat(h) eine Chance hat, taugt dieser gut gemachte Film jedoch allemal.

Die DVD/Blu-ray bietet den Film in englischer Original- sowie deutscher Synchronsprachfassung. Deutsche Untertitel sind optional zuschaltbar. Als Bonus gibt es Trailer. „Dumb Money – Schnelles Geld“ erscheint bei Leonine Studios und ist seit 16. Februar 2024 auch digital erhältlich. (Packshot + stills: © Leonine)