Heimkino-Tipp: „Der verlorene Sohn“ (2018)

Boy Erased

Die „Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme“ (ICD) gilt als das wichtigste Klassifikationssystem für medizinische Diagnosen und ist weltweit anerkannt. Erst 1992(!) legte man darin fest, dass Homosexualität keine psychische Störung ist. Anhänger der sogenannten Konversionstherapie sehen das heute leider immer noch anders: „Zahlreiche religiöse Gruppen betrachten Homosexualität und andere ‚von der Norm abweichende‘ sexuelle Veranlagungen jedoch weiterhin als behandlungsbedürftige Krankheiten. Insbesondere die evangelikale Bewegung ist diesbezüglich sehr aktiv und fördert Maßnahmen wie die ‚Konversionstherapie‘“, ist auf Wikipedia zu lesen.

Aber was ist die „Konversationstherapie“? In wenigen Worten und etwas provokativ zusammengefasst, ist es nichts anderes als der Versuch, Homosexuellen mittels äußerst zweifelhafter Methoden ihre ‚Neigung‘ abzutrainieren, da sie sich gegen die gottgewollte Ordnung richte.

Der australische Tausendsasa (Regisseur, Autor, Produzent, Schauspieler) Joel Edgerton hat sich dieser Thematik nun in seinem zweiten eigenen Film „Boy Erased“ gewidmet. Basierend auf Garrard Conleys gleichnamiger autobiografischer Erzählung, gibt das Werk verstörende Einblicke in ein Umerziehungshaus, in der Homosexuelle „entschwult“ werden sollen. Einer von ihnen ist Jared (Lucas Hedges), der während seiner College-Zeit erste Erfahrungen mit Männern machte und seinen Eltern schließlich gesteht, dass er schwul ist. Sein Vater Marshall (Russell Crowe), ein Baptistenprediger, und seine Mutter Nancy (Nicole Kidman) schicken ihn daraufhin in das Therapiezentrum von Victor Sykes (Edgerton). Dessen Praktiken bringen nicht nur Jared an seine körperlichen und seelischen Belastungsgrenzen.

Oftmals reduziert auf terroristische Anschläge anderer Religionen, erinnert „Der verlorene Sohn“ schmerzlich daran, dass im Namen Gottes auch auf andere, weniger öffentlichkeitswirksame Art und Weise Menschen Leid zugefügt wird. Zwar ist die „Konversationstherapie“ vielerorts bereits verboten oder zumindest nicht anerkannt. Trotzdem finden einige Thesen daraus immer noch Befürworter, was angesichts des politischen Erstarkens extrem konservativer (oder schlimmerer) Kräfte weltweit kaum verwundert.

Regisseur Edgerton verzichtet jedoch darauf, mit erhobenem Zeigefinger oder plumper Polemik seine Gegner anzugreifen und vorzuführen. Er legt den Fokus ausschließlich auf die persönlichen Erfahrungen seiner Hauptfigur, die von Hedges bravourös verkörpert wird. Ein komplexer Charakter, der seine Eltern nicht hasst oder von sich wegstößt, sondern versucht, ihnen trotz gegensätzlicher Überzeugungen nahe zu bleiben. Wie wichtig und hilfreich dieser Weg für alle Beteiligten sein kann, wird an späterer Stelle im Film deutlich.

Wie schon beim fabelhaften Vorgänger „The Gift“ (Rezi HIER) erweist sich Edgerton als versierter Könner vor und hinter der Kamera. Sein Stil ist geprägt von Klarheit, seine Kamera stets auf die Gesichter gerichtet, um jede noch so kleine Nuance einzufangen. Kidman und Crowe sind dafür bestens geeignet und machen die innere Zerrissenheit zwischen ihrer Liebe zu Gott einerseits und ihrer Liebe zum Sohn andererseits meisterhaft deutlich.

P.S.: In einer Nebenrolle ist das kanadische Regiewunderkind Xavier Dolan („Mommy“, „Laurence Anyways“, Rezi HIER) zu sehen. Dessen Arbeiten sind ebenso einen Blick wert!

Die Blu-ray/DVD bietet den Film u.a. in deutsch synchronisierter und englischer Originalsprachfassung sowie diverse Untertitel. Als Extras gibt es gelöschte Szenen sowie mehrere kurze Making of-Clips. „Der verlorene Sohn – Boy Erased“ erscheint bei Universal Pictures Germany GmbH und ist seit 21. Juni 2019 erhältlich. (Packshot + stills: © Universal Pictures)

Heimkino-Tipp: „Plötzlich Familie“ (2018)

Kuck’ mal wer da schreit

Wenn es um chaotische Familiengeschichten geht, ist Sean Anders meist nicht weit: In „Der Chaos-Dad“ (2012), „Daddy’s Home – Ein Vater zu viel“ (2015, Rezi HIER) und dessen Fortsetzung „Daddy’s Home 2 – Mehr Väter, mehr Probleme“ (2017) hat er sich bereits auf mehr oder minder amüsante Weise mit den Hürden des Zusammenlebens auseinandergesetzt. In „Plötzlich Familie“ wird es nun noch ein wenig persönlicher: Denn ebenso wie die Hauptcharaktere im Film, das Ehepaar Pete (Mark Wahlberg) und Ellie Wagner (Rose Byrne), ist Anders Adoptivvater dreier Kinder – und möchte diese Erfahrung nun in Form einer Komödie mit der Welt teilen.

Herausgekommen ist eine zweifellos von Herzen kommende Geschichte, die manchmal lustig, manchmal dramatisch und manchmal leider auch ziemlich profan dahinplätschert und etwas unentschlossen zwischen konservativer Weltanschauung und Veräppelung eben dieser daherkommt.

Für das kinderlose Paar Pete und Ellie ist es eine relativ spontane Entscheidung, zunächst als Pflegefamilie für ein Teenagergirl namens Lizzy (Isabela Moner) einzuspringen. Da Lizzy zwei jüngere Geschwister hat, werden aus einem Hausgast plötzlich drei. Die Herausforderung: Lizzy hat ihren eigenen Kopf, ihr jüngerer Bruder Juan (Gustavo Escobar) ist ein Tollpatsch in Perfektion und die kleine Schwester Lita (Julianna Gamiz) ist ein Schrei-Tyrann mit Engelsgesicht. Schon bald wird den Neu-Eltern klar, dass sie kreative Erziehungsmethoden anwenden müssen, um das Herz ihrer neuen Mitbewohner zu gewinnen. Als dann auch noch deren leibliche Mutter wieder auftaucht, ist der fragile Hausfrieden zusätzlichen Gefahren ausgesetzt.

Bevor die Kiddies auf die Wagners losgelassen werden, nimmt sich der Film Zeit, das Umfeld der Eltern in spe ein wenig näher zu betrachten. Dass es dabei nicht wirklich ‚ganz normale Menschen‘ gibt, sondern alle irgendeine Marotte haben (müssen?), liegt in der Natur des Genres. Allerdings sind auch Pete und Ellie bei aller gespielten Coolness nicht die idealen Sympathieträger, was die Identifikation mit ihnen etwas erschwert. Schon hier zeigt sich ein Grundproblem des Streifens: er changiert mitunter ziellos zwischen ernstem Anliegen und Persiflage hin und her. Deutlich wird dies vor allem in jenen Szenen, in denen sich die Wagners mit Gleichgesinnten über ihre Kinder austauschen. Ob heterosexuelle oder homosexuelle Paare, alleinerziehende Karrierefrauen oder zutiefst gottesfürchtige Paare: Sie alle werden bis zur Unwitzigkeit überzeichnet und wirken nicht unbedingt geeignet für eine Aufgabe wie die Kindererziehung. Trotzdem unterstützen sie sich gegenseitig und erzählen bereitwillig von den Eskapaden ihrer Adoptivkinder.

Eine wirklich tiefgründige Auseinandersetzung mit den familiären Veränderungen, die eine Adoption sowohl auf Kinder- als auch Erwachsenenseite mit sich bringen, spart „Plötzlich Familie“ aus. Vielmehr genügt sich der Film als Nummernrevue, in der jeder Tag neue Hürden mit sich bringt, die es gemeinsam zu überwinden gilt.

Doch bei aller Kritik: Wenn der Film es schafft, zumindest einige Zuschauer dazu zu inspirieren, möglicherweise selbst ein Kind zu adoptieren, so hat Regisseur Anders sein Ziel erreicht. Und nur das zählt.

Die Blu-ray/DVD bietet den Film u.a. in deutsch synchronisierter und englischer Originalsprachfassung sowie diverse Untertitel. Als Extras gibt es verpatzte und gelöschte Szenen sowie einen kurzen Blick hinter die Kulissen. „Plötzlich Familie“ erscheint bei Universal Pictures Germany GmbH/Paramount und ist seit 13. Juni 2019 erhältlich. (Packshot + stills: © Universal Pictures/Paramount)

Heimkino-Tipp: „Beautiful Boy“ (2018)

The Drugs Don’t Work

Etwa die Hälfte des Films „Beautiful Boy” ist bereits vorüber, als mir ein anderes Werk mit ähnlicher Thematik in den Sinn kommt: „Candy“ (2006) erzählt von einem jungen Pärchen, das der Drogensucht verfällt und immer wieder daran scheitert, einen Entzug erfolgreich zu beenden. Mit einem der schönsten Vorspänne, die je auf Zelluloid gebannt wurden, zählt das bewegende Drama mit Heath Ledger und Abbie Cornish in den Hauptrollen bis heute zu meinen persönlichen Filmfavoriten. Und siehe da: Drehbuchautor Luke Davies war an beiden Werken beteiligt. „Candy“ basierte auf dessen eigenen Erfahrungen, für „Beautiful Boy“ verarbeitete er nun die Erinnerungen/literarischen Vorlagen von David Sheff und dessen Sohn Nic.

Sheff sen. interviewte einst übrigens den Musiker John Lennon während der Entstehungsphase von dessen Platte „Double Fantasy“ (1980). Darauf zu finden: der Song „Beautiful Boy (Darling Boy)“, der sowohl David Sheffs Buchvorlage als auch dem Film seinen Titel leiht. Warum, wird schnell deutlich. Denn Papa David (Steve Carell) liebt seinen Sohn, den Teenager Nic (Timothée Chalamet), über alles. Zwar musste der als Kind die Trennung seiner Eltern verkraften und wuchs seither bei seinem Vater und dessen neuer Familie (u.a. Maura Tierney) auf. Abgesehen davon ist im Hause der Sheffs aber alles paletti – scheinbar. Denn dass der Junge neben einem gelegentlichen Joint ebenso harte Drogen konsumiert, wird David erst nach und nach bewusst.

Die darauf folgenden Jahre sind gezeichnet von gescheiterten Entzugsversuchen, vergeblichen Neuanfängen und vor allem Nics Stimmungsschwankungen. Trotz wiederholter Rückschläge lässt David seinen Sohn nicht im Stich, hilft ihm immer wieder auf die Beine, bezahlt für Klinikaufenthalte oder fliegt quer durchs Land, wenn er mal wieder einen nächtlichen Anruf aus einer Notaufnahme von wer weiß wo erhalten hat. Und Nic? Der jagt vergeblich jenem Glücksmoment hinterher, den er einst nach dem ersten Probieren von Crystal Meth verspürte, schämt sich zunächst für sein Verhalten und seine Rückfälle, verliert aber dann doch zunehmend sämtliche Hemmungen, wenn es darum geht, seinen Drogenkonsum zu finanzieren.

Keine leichte Kost, die der Film vom Oscar-nominierten Regisseur Felix van Groeningen („The Broken Circle“) da präsentiert: Was tun als Eltern, wenn das eigene Kind drogensüchtig ist? Wenn es jede Hilfe in den Wind schlägt und dann doch immer wieder aufs Neue verspricht, endlich clean zu werden? „Beautiful Boy“ spielt dieses Szenario bedrückend realistisch durch und wählt dabei als Blickwinkel die Perspektive des Vaters. Dies ist in Filmen mit dieser Thematik bisher nur selten geschehen und gibt „Beautiful Boy“ damit eine besondere, ungewöhnliche Note. Denn David kämpft nicht nur im Hier und Jetzt um seinen Sohn, sondern auch mit Erinnerungen an frühere Zeiten und der Frage, ob und wann er womöglich etwas falsch gemacht und sein Kind an die Drogen verloren hat.

Tiefe Liebe und Verständnis auf der einen, Hilflosigkeit und Wut auf der anderen Seite: Der Film weiß diesen beständigen Gegensatz von Nähe von Entfremdung – auch mittels gelungener Musikauswahl – glaubhaft einzufangen.

Darstellerisch ist „Beautiful Boy“ ebenso ein Genuss: Carell zeigt – wie jedes Mal, wenn mit Bart unterwegs – sein Können in einer seriösen Rolle, und Jungstar Chalamet legt nach „Call Me By Your Name“ eine weitere Glanzperformance hin, mit der er sich für eine lange, erfolgreiche Schauspielerkarriere empfiehlt. Und auch wenn sie beide nicht so viel Screentime zur Verfügung haben: Amy Ryan als Davids Ex-Gattin und die wunderbare Maura Tierney als dessen neue Partnerin agieren stark und verdeutlichen mit ihren Rollen quasi die Kollateralschäden, die aus der konstant angespannten Situation hervorgehen.

„Wenn du aufhören kannst, willst du nicht. Wenn du aufhören willst, kannst du nicht“ beschrieb eine Figur in „Candy“ die Drogensucht ziemlich treffend. „Beautiful Boy“ bestätigt diese Aussage schmerzlich (und cineastisch schön).

Die DVD/Blu-ray bietet den Film in deutsch synchronisierter und englischer Originalsprachfassung. Deutsche Untertitel sind optional zuschaltbar. Als Extras gibt es kurze Making of-Clips, Promo-Interviews sowie Trailer. „Beautiful Boy“ erscheint bei NFP marketing & distribution im Vertrieb von EuroVideo und ist seit 11. Juni 2019 erhältlich. (Packshot + stills: © Amazon Content Services LLC / François Duhamel / NFP)