Heimkino-Tipp: „The Whale“ (2022)

Sanfter Riese

Der Literaturprofessor Charlie (Brandon Fraser) unterrichtet seine Studenten ausschließlich aus dem Homeoffice. Die Kamera stets deaktiviert, können sie nur akustisch seinen ruhig vorgetragenen Ausführungen folgen, ohne zu wissen, wer da eigentlich vor ihnen sitzt. Für den zurückgezogen lebenden Mann eine Art Selbstschutz: Denn Charlie wiegt 300 Kilo, verlässt sein Appartement nie und wird – so zumindest die Prognose seiner einzigen Bezugsperson Liz (Hong Chau), einer Krankenschwester – das Ende der Woche nicht mehr erleben.

Ausgrenzung, Spott, Verachtung: Ein Blick in Charlies Augen verrät, dass er dies alles zur Genüge kennt. Doch statt Wut oder Verteidigung erwidert er in Momenten der Bedrängnis lediglich immer wieder ein flehendes ‚Es tut mir leid‘. Als wolle er sich für seine bloße Existenz entschuldigen, provoziert er damit sein Umfeld ungewollt zusätzlich, sei es Liz, seine Ex-Frau (Samantha Morton) oder die ihm entfremdete Tochter (Sadie Sink), zu der er nach vielen Jahren wieder versucht, zarte Bande zu knüpfen.

Basierend auf einem Theaterstück von Drehbuchautor Samuel D. Hunter, der darin auch eigene Erfahrungen verarbeitet hat, inszenierte Regisseur Darren Aronofsky („mother!“, „Black Swan“) „The Whale“ als ein intensives Kammerspiel im 4:3-Bildformat, das die bedrückende Enge von Charlies Zuhause/Gefängnis regelrecht spürbar macht. Besonders in Szenen, in denen der mächtige und erstaunlich große Charlie sich von seiner Couch erhebt, wird nicht nur das räumliche sondern ebenso körperliche eingepfercht Sein dieses wachen Geistes deutlich.

Für Frasers schauspielerische Glanzleistung – und für das Make-up – gab es u.a. einen Oscar. Wie sehr den sympathischen Mimen die weltweiten Lobhudeleien selbst überraschten und rührten, ist im Netz dank zahlreicher Clips (Stichwort: Filmfestspiele Venedig) dokumentiert. Es ist ein Comeback, das ein wenig an Mickey Rourke erinnert, als er ebenfalls für Aronofsky den „Wrestler“ spielte und dafür ebenso eine Oscar-Nominierung erhielt.

Auch dieser Film handelte u.a. von der Wiederannäherung eines Außenseiter-Vaters an seine junge Tochter. „The Whale“ fügt dem noch eine weitere, spannende Ebene hinzu, indem immer wieder auf Religion, Glaube und deren Auswirkungen Bezug genommen wird. Dem Skript gelingt hierbei die Gratwanderung, die heilsame und die zerstörerische Wirkung der Worte Gottes gleichsam zu verdeutlichen – je nachdem, wer sie auf welche Weise interpretiert.

Das Übergewicht des Protagonisten und seine selbstgewählte Isolation erzählen aber noch anderes: Vom vorurteilsfreien Miteinander (Charlie + Liz), der Angst vor Reduktion auf Äußerlichkeiten (deaktivierte Kamera, kein Verlassen der Wohnung) und der Macht der Sprache/des geschriebenen Wortes.

„The Whale“ ist ein Film mit vielen Facetten, der auch von seinem Publikum erwartet, dass es über den ‚unübersehbaren‘ Hauptdarsteller hinweg schaut, um sich den berechtigten (unangenehmen) Fragen des Miteinanders zu stellen.

Die 4K Ultra HD/Blu-ray/DVD-Disc bietet den Film in englischer Original- und deutsch synchronisierter Sprachfassung. Deutsche Untertitel sind optional vorhanden. Als Bonus gibt es ein Making of, Interviews und Trailer. „The Whale“ erscheint (auch im Mediabook) bei Plaion Pictures und ist seit 27. Juli 2023 auch digital erhältlich. (Packshot + stills: © Plaion Pictures)